Ziegen, Skorpione und eine Grasmückenplage

Mit dem Nachtbus geht es für Rudi und mich von Medellín 500 km weiter östlich nach San Gil. Der Bus ist eigentlich recht bequem, mit breiten Sitzen die sich weit nach hinten lehnen lassen und viel Beinfreiheit. Allerdings ist die Klimaanlage so kalt eingestellt, dass mir selbst mit zwei Pullovern, Jacke und Schal noch kalt ist. Rudi, der nie auf mich hören will und eine kurze Hose und ein T-Shirt anhat, sitzt deshalb die ganze Nacht bibbernd neben mir.


So sind wir ziemlich gerädert, als wir gegen sieben Uhr früh in Bucaramanga ankommen, einer kleinen Stadt mit großem Busbahnhof, von wo aus wir einen weiteren Bus an unseren Zielort nehmen müssen. Der Weg führt über schmale, gewundene Wege bergauf und bergab. An einigen Stellen haben wir Ausblick auf eine atemberaubend tiefe Schlucht, den Chicamocha Canyon, in dessen Tal sich ein schmaler aber reißender Fluss windet.


Schließlich schmeißt uns der Busfahrer an einer Straßenecke in San Gil raus. Kurz hilflos umgeschaut, schon hält ein Taxifahrer und fragt, ob er uns behilflich sein kann. Und während Rudi noch mit dem Fahrer diskutiert, bin ich schon völlig aus dem Häuschen, weil ich nur ein paar Meter weiter im Gras einen riesigen Leguan entdecke, der sich auch noch geduldig von mir fotografieren lässt.

Sieben Kilometer und einen kleinen Fußmarsch über einen Feldweg weiter, und wir sind endlich im „La Pacha“ angekommen, unserem Zuhause für die nächsten zwei Wochen. Der Deal hier: fünf Stunden Arbeit am Tag, sechs Tage die Woche. Dafür bekommen wir Frühstück und Unterkunft gestellt. Herzlich werden wir von unserem Gastgeber Justin, einem gebürtigen Engländer, begrüßt, der uns herumführt und uns die Hofbewohner vorstellt, die da wären: Justins kolumbianische Frau Andrea samt Kindern Inti und Samy, Hund Foxy, Katze Quasi, die Ziegenmamas Isy und Munchie sowie vier Ziegenkinder, von denen nur die Kleinste, Reggie, einen Namen hat. Außerdem ist gerade Andreas 18jährige Cousine Louisa zu Besuch, mit der wir uns schnell anfreunden und die mir mitunter dabei hilft, ein wenig meine Spanischkenntnisse aufzubessern.


Vor ca. einem Jahr haben Justin und Andrea das „La Pacha“ eröffnet und verdienen seither ihr Geld mit dem Hostelbetrieb. Übernachtungsmöglichkeiten dort sind drei größere Zelte, die an die mongolischen Jurten erinnern und mit Betten ausgestattet sind, und ein kleines Zimmer im Gebäude neben der Gemeinschaftsküche. Außerdem können Campingliebhaber im eigenen oder geliehenen Zelt auf dem weitläufigen Gelände übernachten. Weitere Gemeinschaftsräume sind ein Bad, eine Freiluft-Dusche und ein Plumsklo, ein zum Fernseh- und Leseraum umgebauter Bus sowie ein überdachter Lagerfeuerplatz, der von Hängematten gesäumt ist. Alles ist ein bisschen spartanisch, aber ziemlich urig. Doch, hier lässt es sich die nächsten 14 Tage gut aushalten.

Rudi und ich werden für’s Erste in dem kleinen Zimmer neben der Küche einquartiert und dürfen uns von der Busreise erholen. Am Nachmittag lernen wir dann auch Kirsten und Jacob kennen, zwei Australier, die die letzten zwei Wochen im La Pacha mitgeholfen haben und uns, bevor sie am nächsten Tag abreisen werden, noch in die Aufgaben einweisen sollen.


Den Rest des Tages verbringen wir faul Buch lesend und Katze streichelnd in der Hängematte. Es ist warm, die Sonne scheint, wir haben kurze Hosen und Flipflops an und kassieren schon am Abend die Rechnung dafür, als wir nämlich wortwörtlich hunderte von kleinen, rot umrandeten Bissen überall an unseren Beinen entdecken. Ja, das sind Grasmücken, meint Justin. Hätte er uns noch sagen wollen. Keiner läuft hier auf dem Land mit kurzen Hosen durch’s Gras. Vielen Dank auch. Vor allem jucken die Bisse dieser winzig kleinen Biester ungefähr zehn Mal mehr als die von gewöhnlichen Mücken. Außerdem hält der Juckreiz bis zu zwei Wochen an. Am Ende unseres Kolumbienaufenthaltes sehen Rudis und meine Beine aus, als wären wir zwei Drogensüchtige. So sehr wir auch versuchen nicht zu kratzen, es ist einfach unerträglich.

Nun aber zurück zum Wesentlichen:

Unsere Tage im La Pacha beginnen um kurz vor sieben. Meist werden wir da schon von den Ziegen geweckt, die lauthals danach schreien aus dem Stall gelassen zu werden. So schnell geht das allerdings nicht, denn zunächst darf nur Ziegenmama Isy raus. Mittels Futter und einer speziellen Vorrichtung, durch die sie ihren Kopf steckt, wird sie dazu gebracht, für das Melken stillzustehen. Dieses ist übrigens gar nicht mal so einfach und erfordert einiges an Fingerspitzengefühl und hier und da eine gezielte Eutermassage. Da Rudi, besonders was den zweiten Teil angeht, einfach mehr Erfahrung hat als ich, ist das Melken fortan seine Aufgabe.


Kurz bevor Isys Milch alle ist, müssen wir ihre Tochter Reggie aus dem Stall holen. Da Isy ihr Zicklein verstoßen hat und nicht freiwillig füttern möchte, müssen wir dafür sorgen, dass sie stillsteht, während Reggie sich an ihrer Brust laben kann. Reggie ist übrigens die allersüßeste Ziege auf der ganzen Welt. Da sie von ihrer Ziegenmama nicht besonders viel Liebe erfährt, hält sie sich umso mehr an Menschen, lässt sich bereitwillig streicheln und hört sogar auf ihren Namen. Besonders Rudi scheint sie in ihr kleines Ziegenherz geschlossen zu haben, denn sie folgt ihm nach einiger Zeit auf Schritt und Tritt und schreit nach ihm, wenn er morgens nicht in der Nähe ist.


Sind die beiden abgefertigt, darf Isy auf die Weide und Munchie, das zweite Muttertier, wird gemolken. Die alte Ziege ist ganz schön widerspenstig. Ein paar Mal boxt sie mich so arg, dass ich riesige blaue Flecken an den Beinen bekomme. Trägt neben den Mückenstichen auch nicht gerade zu deren Schönheit bei. Rudi scheint die Alte zu mögen und lässt sich nach einer Weile brav von ihm an der Leine führen, während sie bei mir nur bockt. Sowas nennt man wohl Stutenbissigkeit.

In der Zeit, in der Rudi die Ziegen umsorgt, putze ich Küche und Bad und bereite alles für das Frühstück vor, das heißt ich schneide Obst, decke den Tisch und helfe Justin und Andrea je nachdem wie viele Gäste gerade da sind, dabei Eier zu braten, Porridge zu kochen oder Saft zu machen.


Nach dem gemeinsamen Frühstück mit Louisa und den anderen Hostelgästen, mache ich den Abwasch, während Rudi den Ziegenstall ausmistet. Das ist übrigens die – im wahrsten Sinne des Wortes – beschissenste Aufgabe auf dem Hof. Zwei große und vier kleine Ziegen schaffen es innerhalb von einer Nacht sage und schreibe zwei große Eimer voll Kacke zu produzieren. Ein paar Mal überlässt Rudi mir das Ausmisten und ich muss feststellen: So bis zu den Knöcheln in Ziegenkacke stehend, von Fliegen umschwärmt, erscheint mir mein alter Bürojob eigentlich wieder ganz schön.


Zu unseren weiteren Aufgaben gehören, je nachdem was gerade anfällt, Betten machen, Holz für das Lagerfeuer sammeln und hacken, Erde für den Garten aus dem Wald holen und Unkraut jäten. Zwischendrin müssen wir immer wieder kleine Zicklein aus Küche und Garten verjagen, die von Tag zu Tag frecher werden und gar nicht mehr in der Nähe ihrer angebundenen Mütter bleiben wollen.


Um 12 Uhr mittags haben wir Feierabend und den Rest des Tages, bis zum Abend an dem die Ziegen wieder in den Stall müssen, für uns. Das „in den Stall bringen“ ist allerdings auch eine Kunst für sich. Da die kleinen Ziegen für die Nacht von ihren Müttern getrennt werden müssen, damit diese genug Milch für’s Melken am Morgen produzieren können, müssen wir zunächst die Kinder in einer Ecke des Stalls mit einem Holzbrett einpferchen um dann die Mütter in den hinteren Teil des Stalls zu lotsen und das Sperrgitter anzubringen. Die Ziegenbabys sind allerdings flinker als man schauen kann, sodass immer wieder eins entwischt, das wir dann quer über den ganzen Hof jagen dürfen. Großer Spaß.


In unserer Freizeit fahren wir mit dem Bus ins nahegelegene San Gil, besuchen das hübsche Kolonialstädtchen Barichara oder einen der beindruckenden Wasserfälle der Gegend, kochen und quatschen mit den anderen Hostelgästen, schauen Filme im Bus und relaxen abends in der Hängematte am Lagerfeuer. 

An einem unserer freien Tage machen Rudi und ich einen Ausflug zum Chicamocha Canyon, der Felsenschlucht, die uns schon auf dem Weg nach San Gil so fasziniert hat. Im dortigen Nationalpark kann man mit einer Gondel von einem Berggipfel zum anderen fahren und hat dabei einen fantastischen Blick auf das tiefe Tal unter einem.
Ungeschlagenes Highlight des Parks ist jedoch das Freibad, das auf einem der Gipfel errichtet wurde. Noch nie hatten wir beim Baden so eine Aussicht!


Die Tage auf dem Hof sind sehr relaxed und vergehen wie im Flug. Erst an unserem vorletzten Tag im La Pacha kommt dann noch etwas Trubel in die Bude, als nämlich ein sechsköpfiges Fernsehteam eines holländischen Backpacker-Senders bei uns eintrifft. Die Jungs drehen im Rahmen eines Wettbewerbs eine Reisereportage über Kolumbien und fanden, dass das La Pacha die richtige Kulisse für eine echte kolumbianische Erfahrung auf dem Land sei.

Als das Team bei uns ankommt, legt es sofort los mit drehen. Hauptpersonen: Show-Gastgeber Jan und Wettbewerber Alon. Nebenpersonen: Die derzeitigen Hofbewohner, also auch Rudi und ich.


Die Sendung wird Mitte September auf backpack.bnn.nl ins Netz gestellt. Es könnte also sein, dass wir bald (in Holland) ein klitzebisschen berühmt werden.

Am Abend werden schließlich irgendwann die Kameras  zur Seite gelegt und wir können uns noch „ganz normal“ mit den Jungs unterhalten. Am Lagerfeuer gibt Justin eine Runde „Chicha“ aus, ein südamerikanisches Bier aus gegärtem Mais. Dann werden die Gitarren rausgeholt und Jan, der in Holland wohl schon einen richtigen Promi-Status hat, gibt ein Repertoire seiner Lieder zum Besten. Als er anfängt mit seiner rauchigen Stimme zu singen, habe ich Gänsehaut.


Der nächste Tag ist dann auch schon leider unser letzter im La Pacha. Nach einem gemeinsamen Frühstück mit dem TV-Team, bei dem dann auch wieder die Kameras laufen, verabschieden sich die Jungs und Rudi und ich helfen Justin und Andrea beim Aufräumen, bevor wir unsere Stammplätze in den Hängematte einnehmen. Da unser Bus Richtung Bogota erst um Mitternacht abfährt, haben wir genug Zeit uns ausgiebig von jedem der Hofmitbewohner zu verabschieden. 

Besonders der Abschied von den Tieren fällt uns schwer. Als wir die Ziegen ein letztes Mal in den Stall bringen und ich Reggie auf den Arm nehme, muss ich wirklich hart mit den Tränen kämpfen.


Diese sind allerdings schnell vergessen, als plötzlich Aufregung ausbricht. Die Katze hat auf dem Bett unserer Volunteering-Nachfolger einen Skorpion gefunden. Justin fängt diesen in ein Einmachglas, sodass wir das Prachtexemplar noch begutachten können, bevor es weitab vom Hostel im Feld freigelassen wird. Bäääähhh… bin ich froh, dass das erst an unserem letzten Tag hier passiert ist.


Nach einer langen Verabschiedung und dem Versprechen, via facebook in Kontakt zu bleiben, machen uns Rudi und ich schließlich mit dem Taxi auf den Weg zum Busbahnhof.
Diesmal sind wir beide dick eingepackt und frieren trotzdem noch im Bus.

Jedenfalls sind wir froh, als dieser nach sieben Stunden rumpliger Fahrt endlich in der kolumbianischen Hauptstadt ankommt, wo wir noch vier weitere Tage verbringen, bevor wir nach Lima in Peru weiterfliegen.


Die Zeit in Bogota nutzen wir vor allem, um unsere verstochenen Beine zu pflegen, Blog zu schreiben und uns über unser nächstes Reiseziel zu informieren. Die Stadt an sich ist nichts Außergewöhnliches – ein riesiger Moloch mit acht Millionen Einwohnern. Wir besuchen dort die hübsche Altstadt Candelaria, die etwas an die Straßen Cartagenas erinnert, und schauen uns das Botero Museum an, das neben den Bildern des namensgebenden Küstlers unter anderem auch Werke von Picasso und Rembrandt ausstellt.

Fünf Wochen in Kolumbien sind verflogen. Das Land hat uns mehr als positiv überrascht. So machen wir uns am 12. Juli mit einem weinenden und einem lachenden Auge auf den Weg nach Peru, das Land der Lamas, Alpakas und Inkas.

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Kommentare: 2
  • #1

    Sarah (Sonntag, 09 August 2015 09:27)

    Also die Bilderabfolge "Rudi schleift die Machete" und "Ich mache die Betten" ist einfach hervorragend! :-) In dieses Schwimmbad will ich aucchhhh! Und: ich überlege ob wir nicht in Mutzi auch ein paar Ziegen halten sollten, dann darfst du uns auch besuchen und Ziegenmama spielen ok?

  • #2

    Moni (Montag, 10 August 2015 21:58)

    Ja, siehst du, liebe Sarah: bei den Chwolka-Hochhalters herrscht eben noch die klassische Rollenverteilung. Der Mann hantiert mit dem schweren Gerät, die Frau putzt, kocht und macht die Betten. :)
    Solltet ihr wirklich mal Ziegen haben, werde ich mit Freude Ziegenmama spielen. Und euren Garten in Mutzi von Unkraut befreien und Laub rechen und euch ein Frühstück zubereiten. Ach, was sag ich: am Besten, ich zieh gleich bei euch ein.